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Martin Schmuck

Nordrhein-Westfalen – ein politisches Erdbeben am Rhein

 
Martin Schmuck
Martin Schmuck
 

Nach der Wahl ist vor der Wahl. Diese banale politische Weisheit wurde am 22. Mai 2005 von einer Wirklichkeit so schnell eingeholt, wie es sie in der Geschichte Deutschlands noch nie gegeben hat: eine Zeitenwende im wahrsten Sinn des Wortes. Da wurde nach 39 Jahren die SPD von den Wählern aus der Regierung in Düsseldorf gejagt, von einer CDU, die unter Jürgen Rüttgers 44,8 Prozent einfahren konnte. Da erlitten die Sozialdemokraten mit 37,1 Prozent ihr schlechtestes Wahlergebnis seit 1958. Rot-Grün wurde am Rhein abgewählt, und Schwarz-Gelb galt schon vor diesem Wahlabend als die nächste und logische Koalition auch für Berlin. Doch als Franz Müntefering in Berlin sofort nach der bitteren Niederlage seiner heimatlichen Genossen an Rhein und Ruhr den Ruf nach Neuwahlen im Bund verkündete, war nicht nur die Dramaturgie dieses Wahlabends durcheinander gebracht, die politische Klasse war ebenso überrascht wie die sie begleitende Schar der Kommentatoren, Wahlforscher und Politpropheten. Ein politischer Coup wurde in Gang gesetzt. Nachdem Gerhard Schröder seine Erklärung verlesen hatte, die Vertrauensfrage avisierte, Klarheit für seine Regierung und das Land forderte, wurde der sensationelle Machtwechsel am Rhein schnell von der K-Frage an der Spree überlagert. Inwieweit dies nun alles inszeniert war, ist heute müßig zu beantworten. Längst hat die Wirklichkeit die Propheten widerlegt, die Meinungsforscher eingeholt und fast alle Strategen überholt. Berlin hat eine große Koalition, und in Düsseldorf regiert eine CDU/FDP-Regierung, die ihren Koalitionsvertrag neu überdenken muss, da dieser weitgehend auf eine gleiche politische Farbenkonstellation im Bund zugeschrieben worden war. So könnte es fast den Anschein haben, dass aus dem Wahlsieger Rüttgers ein Wahlverlierer geworden ist. Er, der eigentlich Angela Merkel mit seinem Wahlsieg den Weg ins Berliner Kanzleramt geebnet hatte, sieht heute im Blickwinkel vieler Kommentatoren wie derjenige aus, dessen Landesverband am wenigsten in die politische Scheuer fahren konnte. Kein CDU-NRW-Minister im Bundeskabinett, nur der Generalsekretär kommt vom Rhein, und wenn Jürgen Rüttgers auf sein Verhältnis zu Angela Merkel angesprochen wird, sind die Antworten meistens sehr einsilbig und schmallippig. Kurz und glatt formuliert: Der Gewinner vom Rhein ist der Verlierer an der Spree. Ist das wirklich so? Fakt ist: Die SPD hat die Wahlen in Düsseldorf und Berlin verloren, die Kanzlerschaft an die CDU abgetreten und den Parteivorsitzenden verstoßen. Aber die CDU stand auch dank des Stoiber-Rücktritts lange Zeit für Negativ-Schlagzeilen. War dies alles am Wahlabend des 22. Mai vorhersehbar? Wohl kaum! Genialisch gezockt hat Schröder, meinte der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter. Doch das hatte damals wenig mit einer politischen Botschaft zu schaffen, sondern war wohl mehr der Notausstieg aus einer Sackgasse, mit dem sich Schröder und Genossen auch aus der Umarmung mit den Grünen befreien wollten. Apropos: Dies hatte schon Peer Steinbrück – allerdings unter ganz anderen Umständen – vergeblich versucht, als er die Grünen aus dem Düsseldorfer Regierungsbündnis stoßen wollte, um mit der CDU und nicht, wie vielfach kolportiert, mit der FDP eine neue Koalition zu schmieden. Allerdings pfiffen ihn seine Berliner Parteifreunde zurück, weil sie den Bruch mit den Grünen auch im Bund fürchteten. Steinbrück, der Verlierer, wurde durch die Art und Weise, wie er den Wahlkampf führte, für die SPD zum Gewinner. Denn: Das schlimme Düsseldorfer Wahlergebnis lag für die Sozialdemokraten noch deutlich über den desaströsen Umfrageergebnissen, und Steinbrück nahm alle Schuld auf sich und zeigte nicht in der Stunde der Not – wie andere – mit den anklagenden Fingern auf die Berliner Genossen um Schröder und Müntefering. Zeitenwende auch hier: Wie schnell und kurzzeitig Trends geworden sind, sollte schon wenig später die Bundestagswahl zeigen. Da wurde die SPD in Nordrhein-Westfalen am 18. September wieder stärkste Partei vor der CDU, die gegenüber der Landtagswahl fast zehn Prozent ihrer Stimmen einbüßte; nur vier Monate liegen dazwischen. Die Haltbarkeitsdaten in der Republik haben offenbar ihre Gültigkeit verloren. Die Flüchtigkeit von Wahlen und Wählern ist selten so spürbar wie in diesen Tagen.

Das größte Bundesland im Schatten von Berlin, so kann man die Lage Nordrhein-Westfalens in der zweiten Jahreshälfte 2005 beschreiben. Klar ist: Wer im Schatten steht, wirkt blass. Dieses Problem hat auch die Landesregierung mit ihrer medialen Begleitung und Kommentierung. Ohnehin ist Landespolitik auf dem nationalen Parkett – so scheint es – vorwiegend durch die Darbietungen der geschmeidigen Vortänzer wahrzunehmen; da sind beispielsweise mit Roland Koch und dem Niedersachsen Wulff auf der CDU-Seite bereits gekonnte Virtuosen am Werke, Neuprofilierungen werden da schwer. Für Jürgen Rüttgers und sein Kabinett ist, unabhängig von den bundespolitischen Begleiterscheinungen und abseits von den Pannen und Fehlern jeder Anfängerregierung, die Zeit des Gestaltens ohnehin nicht leicht. Die Verschuldung geht über die Verfassungsgrenze; zu verteilen gibt’s nichts, und wenn er noch mehr Lehrer einstellen will, fehlen die auch noch mangels qualifizierten Nachwuchses und/oder leerer Kassen. Da gibt die schwarz-gelbe Landesregierung zu, etwa 90 Beschäftigte der eigenen Couleur für Führungsaufgaben in den Landesdienst zu stellen; sie wird natürlich sofort öffentlich »verprügelt«, obwohl dies auf dem »stillen« Dienstweg fast bei jedem Regierungswechsel geschieht. Die Regierung am Rhein ist in der Realität angekommen, schneller wohl als viele glaubten. Die Berliner Luft ist eben auch eine politische Duftmarke, die seit dem 22. November, der Kanzlerwahl Angela Merkels, eine besondere »Käseglocke« bildet, unter der sich die politischen Gewichte zwischen Berlin und den Ländern neu austarieren müssen. Schwieriger wird jetzt das Regieren in Düsseldorf, aber das Opponieren nicht minder. Die neue SPD-Fraktionschefin Hannelore Kraft hatte sich schon kurz nach der Landtagswahl vehement auf Schwarz-Gelb »eingeschossen«. Nunmehr muss sie mit Rücksicht auf die Große Koalition vorsichtiger zu Werke gehen, weil das Prinzip der kommunizierenden politischen Röhren natürlich auch für sie gilt: Sparmaßnahmen, die in Berlin auch von Sozialdemokraten mitbeschlossen worden sind, lassen sich am Rhein schlecht kritisieren, denn »Mithaftung« ist jetzt angesagt.

Nordrhein-Westfalen, mit einer neuen Regierung, das ist auch eine Zeit der neuen Unübersichtlichkeiten, aber auch der Chancen. Traditionelle Parteienmuster haben sich hier genauso wie anderenorts verschoben, damit auch die Koalitionsmöglichkeiten. Jeder kann mit jedem, so scheint es. Noch regieren die Grünen nicht mit der CDU, doch irgendwann – so ist auch bei Jürgen Rüttgers durchzuhören – kann dies auch ein landespolitisches Koalitionsmuster sein. Festzuhalten ist auch: Im bevölkerungsreichsten Bundesland gibt es keine Linkspartei im Parlament. Da sind die Menschen bodenständig wie eh und je. Extreme, ob rechts oder links, haben an Rhein und Ruhr bei Wahlen keine Chance, und das ist – um einen anderenorts gebrauchten Satz zu wiederholen – »auch gut so«.
 
 
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