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2005  
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Bettina Schausten

Überraschung! Notizen aus dem Wahljahr 2005

 
Bettina Schausten
Bettina Schausten
 

Düsseldorf, Sonntag, 22. Mai 2005:
der Anfang vom Ende?

Die Sensation kommt um 18.24 Uhr. Nordrhein-Westfalen, die sozialdemokratische »Herzkammer«, ist an die CDU verloren gegangen. SPD-Chef Franz Müntefering kündigt Neuwahlen zum Bundestag für den Herbst an. Die SPD-Niederlage überrascht nicht, dieser Schachzug schon. Bundeskanzler Gerhard Schröder bestätigt die Absicht wenig später. Will er gar nicht mehr? Ist dieser Entschluss nichts anderes als ein verschleierter Rücktritt, in jedem Fall der Anfang vom Ende Schröders? Vor allem: Wie soll das überhaupt funktionieren, Vertrauensfrage? All diese Fragen bestimmen bereits die weitere Sendung im ZDF-Wahlstudio im Düsseldorfer Landtag. Bundestagswahl – das heißt auch: Die Union braucht einen Kanzlerkandidaten. Acht Tage nach der Neuwahlankündigung bestimmt die Union Angela Merkel zur Kandidatin. So reibungslos wäre das für sie kaum gelaufen, wenn erst 2006 gewählt worden wäre. Angela Merkel kann sich bei Gerhard Schröder bedanken.

Mainz-Lerchenberg, Samstag, 11. Juni 2005:
Wahl-Planung im ZDF

Die Sommerurlaube sind längst storniert, die ersten Alarmplansitzungen in den verschiedensten Redaktionsrunden bereits abgehalten. Aus dem Boden gestampft und ins Programm gehoben werden muss jetzt, und zwar jetzt, ein umfangreiches und vielfältiges journalistisches Angebot für den ZDF-Zuschauer, mit dem er sich auf diese Wahl vorbereiten kann – was Personen und was Themen angeht. Ein Samstag wird zum großen Planungstag der Chefredaktion. Ziel ist eine abgestimmte Mischung aus allen journalistischen Genres – Reportage, Talk, Dokumentation. Wie kann das ZDF es schaffen, die Bürger, die Wähler mit ihren Meinungen stärker zu Wort kommen zu lassen? Entwickelt wird die Idee zu einem »Wahlbus«, ein rollendes Bürgermobil, das die Stimmungen der Menschen und ihre Erwartungen an die Politiker quer durch die Republik einfangen wird. Auch die drei großen Themenabende, die »Wahlforen«, die für den August neu konzipiert werden, verpflichten sich der Idee, die Sorgen, Anliegen und Meinungen der Zuschauer einzubeziehen. Am Ende liefert das ZDF mehr als 60 Stunden Informationsprogramm zur Wahl. Die Zuschauer bescheinigen ihm später Vielfalt und Seriosität.

Berlin, Freitag, 1. Juli 2005:
die Vertrauensfrage

Die nächste von fast 30 »ZDF spezial«-Sendungen im Überraschungswahljahr 2005 folgt am 1. Juli, dem Tag, an dem Gerhard Schröder den Abgeordneten im Deutschen Bundestag förmlich die Vertrauensfrage stellt. Wieder ein historischer Moment. Einen einfachen und direkten Weg zu Neuwahlen haben die Verfassungsväter aus gutem Grund verbaut, die Vertrauensfrage kann ein Weg sein, wenn der Kanzler sie verliert und damit beweist, dass er über keine »stetige Mehrheit« der Abgeordneten mehr für seine Politik verfügt. Wunschgemäß verliert Schröder die Vertrauensfrage – für die SPD, die gegen ihn votieren muss, um ihre Unterstützung für ihn zu beweisen, ein quälender Gewissenskonflikt, und für Verfassungsexperten ein weites Feld: War diese Vertrauensfrage überhaupt verfassungskonform? Nach Ausschöpfung der Frist entscheidet Bundespräsident Horst Köhler 21 Tage später diese Frage mit einem klaren Ja. Neuwahlen werden für den 18. September angesetzt. Die Wahlkämpfer haben diese Entscheidung übrigens nicht abgewartet. Die Plakate hängen schon.

Dortmund, Sonntag, 28. August 2005:
Angies Krönungsmesse

ANGIE – der Schriftzug prangt von tausenden orangefarbenen Pappschildern im weiten Rund der Dortmunder Westfalenhalle. Die Veranstaltung nennt sich Wahlparteitag, ist aber nichts anderes als eine grandiose Jubel-Inszenierung, eine Krönungsmesse für Angela Merkel. Alles nur Show – das war jahrelang der Vorwurf der Union an den Medienkanzler Schröder. In Dortmund versucht Merkel, Schröder mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. Sie wirkt ein bisschen fremd in all der Samba-Beschallung samt Lasershow. Unverdrossen kümmert sich das ZDF in seinem Parteitagsbericht 30 Minuten lang vor allem um die politischen Inhalte der Union. Übrigens: eine von sieben Sondersendungen im Jahr 2005.
Der nächste steht bereits drei Tage später bei der Parallelveranstaltung der SPD auf dem Programm. Auffallend hier der bewusste Verzicht auf Showeinlagen. Die beste Parteitagsrede Schröders überhaupt, urteilen Beobachter, lange nicht, vielleicht nie, war er seiner Partei so nah. Und die ist am Ende überzeugt: Der ist noch nicht auf Abschiedstour, der kann es noch mal packen.

Berlin, ZDF-Hauptstadtstudio,
Sonntag, 18. September 2005: sie oder er?

Der Schlussspurt des Wahlkampfs verengt sich auf die Entscheidung um die Kanzlerschaft. Sie oder er – das ist die Frage in zwei exklusiven Porträts des ZDF über Angela Merkel (Michaela Kolster/Ulf Röller) und Gerhard Schröder (Anke Becker-Wenzel/Peter Frey), vor allem im einzigen TV-Duell Anfang September. Schröder gewinnt in den Augen der Zuschauer, eine Liebeserklärung an seine Frau Doris bleibt allen in Erinnerung. Der Medienkanzler noch einmal in seiner stärksten Rolle. Dann der Wahlabend und ein Wahlergebnis, das zunächst keinen Sieger bringt, im Gegenteil: zwei Verlierer. Merkel liegt vorn, aber knapp und mit einem miserablen Ergebnis für die Union. Schröder liegt hinten, aber knapp, so knapp, dass er sich erdreistet, den Sieg zu behaupten. Sein Auftritt in der »Berliner Runde« im ZDF-Hauptstadtstudio offenbart mit Wucht die Kehrseite des Machtmenschen Schröder: Arroganz, Anmaßung. »Kein anderer außer mir kann eine Regierung bilden«, sagt er. Und: Man müsse »die Kirche im Dorf lassen«. Die Kirche bleibt im Dorf, Schröder muss seinen Anspruch aufgeben, Merkel wird es am Ende schaffen – die Regierungsbildung unter ihrer Führung. Sie oder er. Die »Berliner Runde« ist der mediale historische Höhepunkt der Wahl 2005 und bleibt auch mit einem selbstbewussten journalistischen Ausrufezeichen verbunden, das der ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender setzt: »Nicht alles, was Ihnen nicht gefällt, ist eine Medienkampagne.« Das Plädoyer für die Zunft schließt im ZDF nach der Wahl die selbstkritische Diskussion nicht aus – zum Beispiel über die Bedeutung von Umfragewerten und die Schlüsse, die Journalisten daraus ziehen sollten. Voreilig waren die im Programm des ZDF nicht.

Berlin, im Herbst 2005:
9½ Wochen bis zum Finale

Nach der Wahl ohne Sieger werden erneut die verschobenen Urlaube storniert: Der Journalist weiß: Das kann dauern! Und es dauert. Sondierungsgespräche, Koalitionsgespräche – aus erbitterten politischen Feinden müssen, wenn nicht Freunde, doch Partner werden. Die SPD im Konrad-Adenauer-Haus, die Union im Willy-Brandt-Haus. Immer wieder neue historische Momente, die im ZDF-Programm mit zahlreichen Sondersendungen begleitet werden, mit Unmengen von Schalten zu den Hauptstadtkorrespondenten, mit einer dokumentarischen Langzeitbeobachtung. Die politische Spannung bleibt, die journalistische auch. Noch mal heißt es: Überraschung. Die SPD kippt mitten in der entscheidenden Phase der Koalitionsverhandlungen ihren Parteichef vom Sockel. Alarm! Alles offen! Dann in Rekordzeit der Neue – Matthias Platzeck. Und die Nation reibt sich die Augen: Zwei Ossis sind jetzt die »Bossis«. Wieder ein historischer Moment.

Berlin, 22. November 2005:
weinende Männer und die Kanzlerin

Zapfenstreich für Gerhard Schröder, Tränen bei »My Way«. Tränen auch bei Hans Eichel und bei anderen, die Abschied von der Macht nehmen müssen. Sentimentalitäten, die Männer zeigen Gefühl. Angela Merkel wenig. Dass sie »glücklich« sei, diesen O-Ton muss sie sich für die Kameras am Tag ihrer Wahl zur Kanzlerin geradezu abringen. Ihr Ehemann verweigert sich dem medialen Auftrieb gänzlich. Das ZDF überträgt erneut live aus dem Reichstagsgebäude, und das ist er nun wirklich: Der historische Moment dieses Jahres. Erstmals wird eine Frau deutsche Bundeskanzlerin – und »Bundeskanzlerin« das Wort des Jahres 2005. »Das ist ein starkes Signal für viele Frauen, und für manche Männer sicher auch«, sagt Bundestagspräsident Lammert. Die Frage, die Frauen im Berufsleben stets leichter trifft als Männer – »Kann die das?« – verstummt in den ersten Regierungswochen des Jahres 2005 völlig. Ein Kompromiss beim EU-Gipfel in Brüssel, das gute Ende der Entführung einer deutschen Geisel im Irak: Die Kanzlerin glänzt – und das hat wenig mit ihrem Frausein zu tun und viel mit ihrem Kopf. Lösungen sucht Angela Merkel als Naturwissenschaftlerin. Die Dinge vom Ende her zu denken, das hat sie einmal als ihre Handlungsstrategie beschrieben. In nur 16 Jahren wurde aus der ostdeutschen Nachwuchspolitikerin die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. »Ich bin nicht am Ziel, sondern am Anfang«, sagt sie am Abend ihrer Wahl im ZDF-Interview. Richtig. Der Härtetest steht ihr erst bevor. Das ZDF ist auf Überraschungen eingestellt.
 
 
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