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2005  
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Peter Frey

Was für ein Jahr!
Wie sich 2005 die Ereignisse in Berlin überschlugen

 
Peter Frey
Peter Frey
 

Offengestanden: Ich hatte mich darauf eingestellt, dass der 22. Mai 2005 ein relativ ruhiger Arbeitstag für mich werden würde. Am Tag der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen lag die Moderation der »Berliner Runde« beim ARD-Kollegen Thomas Roth, die Wahlberichterstattung ist Aufgabe der Innenpolitik, ich hatte ein paar Fragen vorbereitet für eine Runde mit Zeitungsjournalisten, die die Wahlsendung von Bettina Schausten abschließen sollte. Nach Landtagswahlen ist der Tag des Hauptstadtstudios traditionell der Montag, wenn die politischen Folgerungen für die Bundespolitik erkennbar werden.

So verfolgte ich die Wahlsendungen, hörte die Erklärung des SPD-Chefs Franz Müntefering – kurz und bündig, weil dann schnell weitergeschaltet wurde. Den »Knaller« des Abends lieferten erst die Nachrichtenagenturen, die Müntefering bis zum Ende zuhörten. Eil! Der Sauerländer hatte die Überraschung des Abends ans Ende seiner Erklärung gestellt! Die SPD zog aus der neuerlichen Wahlniederlage, diesmal in ihrem wichtigsten Land, eine überraschende Konsequenz: Neuwahlen! Es dauerte nur Minuten, bis meine Telefone heiß klingelten. Die »heute«-Redaktion. Ob ich für die 19-Uhr-Ausgabe die verfassungsmäßige Grundlage dieser Entscheidung erklären könnte? Es gibt Momente, da treten einem zuerst Schweißperlen auf die Stirn und dann fällt einem, Gott sei Dank, jemand ein, der es wissen müsste. Er war erreichbar. Und er wusste auch.

An diesem Abend begann ein politischer Prozess, wie ihn selbst lang gediente Hauptstadtkorrespondenten noch nicht erlebt hatten. Statt endloser Selbstzerfleischung einer handlungsunfähig gewordenen rot-grünen Koalition hatten sich Müntefering und Schröder für Beschleunigung entschieden. Das Riskant-Überraschende der Operation, das trug eindeutig die Handschrift des Bundeskanzlers. Aber ohne Müntefering wäre die Entscheidung nicht gefallen. Der Parteichef wusste, dass er seinem Kanzler keine Mehrheiten mehr garantieren konnte. Eine von einer Abstimmungsniederlage zur nächsten torkelnde SPD, Flügelkämpfe, das alles am Nasenring einer den Bundesrat beherrschenden Opposition – das wollte »Münte-Franz« weder sich noch seiner Partei zumuten.

Neuwahlen waren ohne eine bewusst verlorene Vertrauensabstimmung des Bundeskanzlers verfassungsmäßig nicht zu erreichen. Der 1. Juli wurde zum Tag, an dem die Regierung ihre Mehrheit nicht mobilisieren durfte. Verkehrte Welt: Die, die dem Kanzler bislang das Leben schwer gemacht hatten, wollten jetzt partout für ihn stimmen. Dass Abweichler plötzlich zu den Treusten der Treuen werden, gehörte zu den Erkenntnissen, die die SPD in diesen Wochen sammeln durfte.

So sehr die SPD-Spitze Partei, Koalition und Öffentlichkeit überrumpelt hatte, eines hatten die beiden nicht zu Ende gedacht: Die Phase zwischen Neuwahlentscheidung und Vertrauensabstimmung stürzte den Kanzler in ein kommunikatives Vakuum. Wochenlang konnte über die Begründung für die Vertrauensfrage nur spekuliert werden – Schröder konnte sich nicht äußern, musste ohne sein wirkungsvollstes politisches Instrument auskommen: die Kommunikation mit der Öffentlichkeit. Die Umfragen sprachen ein deutliches Urteil: In der Stimmung stürzte die Kanzlerpartei auf skandalöse Werte um 20 Prozent, CDU/CSU sonnten sich auf nie gekannten Umfragehöhen um 50 Prozent Zustimmung. Bei den Grünen griffen sich selbst höchste Regierungsvertreter an den Kopf und fragten, wie man die Macht so wegwerfen könne.

Im ZDF liefen die Vorbereitungen für die Wahlberichterstattung an. Zusammen mit Anke Becker-Wenzel übernahm ich es, den Kanzler und Noch-Amtsinhaber zu porträtieren. Man hätte sich schönere Phasen für eine Nahaufnahme des Kanzlers denken können. Aber in den nächsten zehn Wochen lernten wir einen Mann kennen, der entschlossen war, »alles oder nichts« zu spielen – besser eine Niederlage in Ehren, als sich gedemütigt vom Hof jagen zu lassen. Gerhard Schröder und seine Frau Doris Schröder-Köpf ließen die Kamera nah an sich heran, wirkten auf eine fast unheimliche Weise zuversichtlich, wollten klare Verhältnisse, endlich eine Legitimation für die viel zu spät aufgelegte Reformpolitik.

Bei unseren wochenlangen Dreharbeiten für das Porträt »Gerhard Schröder: Wer nicht kämpft, hat schon verloren« erlebten wir den Kanzler nur zwei Mal nervös: am 1. Juli, als die uns versprochene Möglichkeit, den Kanzler schon früh am Morgen auf dem Weg zum Parlament zu begleiten, wieder zurückgezogen wurde. Jetzt keine Ablenkung! Schon ein paar Tage vorher hatten wir beobachtet, wie Gerhard Schröder nach einem Gespräch mit dem US-amerikanischen Präsidenten George W. Bush in Washington reichlich angefasst auf Journalistenfragen zur Innenpolitik reagierte. Das waren die einzigen Risse in einer Fassade konzentrierter Gelassenheit.

Wir hatten natürlich angefragt, den Kanzler auch im familiären Umfeld drehen zu dürfen. An einem Freitag Ende Juli trafen wir die Schröders mit ihren Töchtern und Hund in der Hannoveraner Innenstadt. Dreharbeiten zu Hause waren tabu. Wir mussten uns auch verpflichten, die Kinder nicht von vorne zu zeigen, was einen Kameramann angesichts einer quicklebendigen Dreijährigen vor Probleme stellt. So machten wir uns also auf den Weg nach einem Eis bei Mövenpick zu einem Ententeich dicht am Rathaus, ein »ganz privater Familienspaziergang«, fünf ZDF-Kollegen und drei Sicherheitsleute immer um die Schröders rum. Merke: Auch mächtige Männer – und ihre Frauen – zahlen einen Preis für die Macht (und den Kampf um ihre Erhaltung).

Wie Schröder es vorhergesagt hatte, nahm der Wahlkampf einen anderen Verlauf, als es zu Anfang schien. Je näher der Wahltermin rückte, desto mehr kamen die Umfragen in Bewegung. Als sich Schröder am Abend des 18. September im Willy-Brandt-Haus als Wahlsieger lautstark präsentierte, konnte ich mir das nur mit der gewaltigen Endorphin-Ausschüttung erklären, die eine solche Anstrengung wohl mit sich bringt. Es dauerte ein paar Wochen, bis der Kanzler auf dem Boden der Tatsachen angekommen war – auch das hatte es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.

Angela Merkel blieb im Jahr 2005 das Gegendbild zu Schröder. Wenn er auf Dramatisierung, Emotion und eine Art Wir-schaffen-das-noch-Hypnose setzte, blieb seine Herausforderin immer cool bis zur Selbstverleugnung. Angela Merkel erschien mir im ZDF-Sommerinterview – in der Woche, als Paul Kirchhof mit eigenen finanzpolitischen Thesen den Unionswahlkampf ins Wanken brachte – fast wie ein Roboter: eine Frau mit klarem Ziel, die sich von nichts aus der Bahn werfen lässt. Am Ende hatte sie nach Kohl, Schäuble und Stoiber wirklich auch Schröder geschafft. Und die neuen Mehrheitsverhältnisse – Große Koalition bedeutet eben auch Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat – werden ihr auch die Widersacher in der eigenen Partei vom Hals halten.

Genau zehn Tage nach der Wahl hatte ich Merkel auf einem Empfang getroffen und gefragt, wie sie den gewaltigen Druck aushalte, der nach dem äußerst knappen Wahlsieg auf ihr laste – 35,1 Prozent, da hatten selbst Merkel-Getreue am Wahlabend einen sofortigen Rücktritt der Spitzenkandidatin und Vorsitzenden nicht mehr ausgeschlossen. Sie schaute mich mit ihren klaren Augen an und sagte, sie habe am Wochenende in ihrem Wochenendhaus in der Uckermark den Teig für einen Zwetschgenkuchen geknetet – seitdem ginge es ihr besser. Und so dauerte es nur ein paar Wochen, bis aus der mit Westerwelle liebäugelnden Reformerin die Chefin eines weitgehend sozialdemokratisch geprägten Kabinetts wurde. Als sie am 22. November zur ersten Kanzlerin der Bundesrepublik gewählt wurde, war das vor allem der Sieg einer Frau mit eisernen Nerven und einem beachtlichen Machtwillen.

2005 war ein Jahr mit so großen Veränderungen, dass veritable Sensationen fast zur Fußnote wurden. Der Rücktritt Franz Münteferings und der anschließende Generationswechsel in der SPD – das wäre in normalen Zeiten Stoff für wochen- und monatelange Auseinandersetzungen gewesen, jetzt vollzog es sich in Tagen. Der Salto Edmund Stoibers von München nach Berlin und wieder zurück – innerhalb von Stunden nachrichtlich konsumiert.

Der geschäftsmäßige Auftritt der Großen Koalition nach Regierungsübernahme ließ fast vergessen, wie gewaltig es in der Republik gekracht hatte. Der Erfolg der kleinen Parteien, das schlechte Abschneiden der bisherigen Volksparteien, für die die 40-Prozent-Marke nach drei Bundestagswahlen jetzt dauerhaft fast unerreichbar erscheint – das stellt die Frage, wie sich das politische System der Bundesrepublik Deutschland künftig ordnen wird. Hinter all den erstaunlichen persönlichen Geschichten steht die Frage, ob es in Deutschland überhaupt noch einmal Mehrheiten für die »gelernten Koalitionen« rechts oder links geben wird – oder ob die Entscheidung des 22. Mai 2005 die Republik dauerhaft verändert hat.
 
 
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