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2003  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
Thomas Bellut
Hans Janke
Hans Helmut Hillrichs
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Hiltrud Fischer-Taubert
Claus Beling
Marita Hübinger/Elke Heidenreich
Claus Kleber
Bettina Schausten
Norbert Lehmann
Matthias Fornoff
Eckart Gaddum

Bettina Schausten

Reformen, Reformen und kein Ende
Das Jahr 2003 aus innenpolitischer Sicht

 
Bettina Schausten
Bettina Schausten
              
 

Die Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März im Bundestag dürfte das wichtigste innenpolitische Ereignis des Jahres gewesen sein, auf jeden Fall das Ereignis mit den größten Auswirkungen. Gut eine Stunde präsentierte der Regierungschef im Deutschen Bundestag seine Vorstellungen zur Veränderung des Sozialstaats – seither bekannt unter dem Schlagwort »Agenda 2010«. Zukunftsweisend sollte der Begriff sein, ein Markenartikel sozusagen – die Formel der Regierung Schröder, wie dieses Land im Jahr 2010 aussehen soll.

Die SPD

Was Gerhard Schröder an diesem 14. März in seiner Rede präsentierte, war und ist nicht leicht zu verdauen für seine Partei, die SPD, stellt es doch eine wirkliche Veränderung des bisher bekannten Sozialstaats dar: Kürzung des Arbeitslosengeldes ab dem 55. Lebensjahr, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Hartz I, II, III und IV, Personal-Service-Agenturen, Ich-AGs – lauter neue Schlagworte, hinter denen sich ein Kerngedanke verbirgt: weniger staatliche Leistung und mehr Eigenverantwortung. Nach dem knappen Wahlsieg 2002 und einem überaus holprigen Start in die zweite Legislaturperiode sollte diese Rede der Startschuss für eine Wende der rot-grünen Bundesregierung sein.

Gut einen Monat früher, am 2. Februar, hatte die SPD in Hessen und in Niedersachsen die Quittung für die Unzufriedenheit der Wähler mit der Bundesregierung bekommen. In Hessen stürzte die SPD regelrecht ab, nur jeder fünfte Wähler stimmte für die Sozialdemokraten. Viele traditionelle Stammwähler blieben aus Verärgerung zu Hause und ermöglichten eine absolute Mehrheit der Mandate für den amtierenden Ministerpräsidenten Roland Koch, der nun ohne die FDP Hessen weiterregiert. Noch gravierender der Wahlausgang in Schröders Stammland, in Niedersachsen. Der Hoffnungsträger der SPD, Sigmar Gabriel, verlor sein Amt als Ministerpräsident durch die deutliche Wahlniederlage. Gabriel hatte noch versucht, sich mit inhaltlichen Gegenpositionen dem Bundestrend entgegenzustemmen. Vom Kanzler wurde er dafür abgestraft, an der Wahlurne brachte es nichts. Und es bescherte Gabriel in der Folge eine denkwürdige Karriere: vom Ministerpräsidenten in Niedersachsen zum Popbeauftragten der Bundes-SPD. Zweimal war der neue niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff an dem übermächtigen Gegner SPD gescheitert, jetzt war Gerhard Schröder, der frühere Regierungschef in Niedersachsen, der beste Wahlhelfer des Christdemokraten.

Schröders Regierungserklärung zur »Agenda 2010« kann durchaus im Zusammenhang mit diesen beiden Landtagswahlen gesehen werden. Nach der Zeit der »ruhigen Hand« änderte der Bundeskanzler jetzt den Kurs. Entschlossen vertrat er die Überzeugung, dass schmerzhafte Veränderungen in den sozialen Sicherungssystemen unumgänglich sind, dass auch die Sozialdemokraten Abschied nehmen müssen von der klassischen Verteilungspolitik – in Zeiten, in denen es nichts mehr zu verteilen gibt. Im Verlauf des Jahres hielt der Regierungschef konsequent an seinen Vorschlägen fest, gegen immense Widerstände aus seiner Partei, die er mehrfach nur mit Rücktrittsdrohungen bei der Stange hielt.

Bei den weiteren Wahlen in diesem Jahr nutzte der begonnene Reformprozess der SPD allerdings nichts. Nicht mehr als Gesichtswahrung in Bremen Ende Mai, wo der populäre SPD-Bürgermeister Henning Scherf zwar gewann, allerdings nicht wegen, sondern eher trotz Schröder. Und bei den Landtagswahlen in Bayern im September gab es eine weitere dramatische Wahlniederlage, die SPD rutschte tief in den Keller. Der triumphale Wahlsieg der CSU mit über 60 Prozent der Stimmen und einer Zweidrittelmehrheit im Landtag war – obwohl vor allem mit der spezifischen bayerischen Situation und der jahrzehntelangen Alleinregierung zu erklären – auch eine späte Genugtuung für Edmund Stoiber. Revanche für die verlorene Bundestagswahl 2002 und eine Stärkung für den CSU-Chef im Machtgefüge mit der Schwesterpartei CDU.

Die Grünen

Nicht nur bei Wahlen, auch bei den regelmäßigen Befragungen durch die Forschungsgruppe Wahlen für das »ZDF-Politbarometer« musste die SPD starke Einbußen hinnehmen. In der politischen Stimmung zeitweise auf bis zu 22 Prozent abgestürzt (Spötter sprachen schon vom »Projekt 18«), blieben die Sozialdemokraten auch in der Projektion (»Wenn am nächsten Sonntag wirklich gewählt würde«) stabil im Tief, um die 30 Prozent. Die Verunsicherung und auch die Verärgerung der Bürger wurden komplett bei der SPD abgeladen. Anders ist nicht zu erklären, dass der kleine Regierungspartner, die Grünen, bei Wahlen und bei Umfragen konstant gute Ergebnisse erzielte. Die Diskussion um soziale Einschnitte, die Verwirrung über immer neue Vorschläge, die Unklarheit über das, was kommt oder nicht kommt, all das wurde der SPD angelastet, nicht den Grünen, die offensichtlich als das »kleinere Übel« angesehen wurden. Pragmatisch und ohne alte Flügelkämpfe brachte sich die Alternativpartei in die Regierungsarbeit ein, der heimliche Vorsitzende, Außenminister Joschka Fischer, war im Jahr 2003 durchgehend der beliebteste deutsche Politiker, und das mit klarem Abstand zu den folgenden Kollegen der jeweils aktuellen »Politbarometer«-Liste. Seine Ausnahmestellung wurde augenfällig beim Parteitag der Grünen Ende November in Dresden, als Fischer nicht mehr persönlich vorbeischaute, sondern sich – unabkömmlich bei einem Außenministertreffen in Neapel – in die Parteitagshalle zuschalten ließ. Dem »Guru der Grünen« wurde selbstironisch von jungen Delegierten gehuldigt: Anbetung des Superstars, Jubel für den »virtuellen« Vorsitzenden.

Die FDP

Die andere kleine Partei, die FDP, konnte von der Reformdiskussion nicht profitieren. Bei den Landtagswahlen gab es durchschnittliche Ergebnisse oder unbedeutende Verbesserungen wie in Bayern, der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde klappte aber nicht. Auch in den Umfragen pendelte die FDP nahe dieser Sperrklausel, lange vergessen der Traum von einer 18-Prozent-Partei.

Der Erfinder dieses Anspruchs, Jürgen W. Möllemann, hielt die Liberalen in der ersten Jahreshälfte in Atem. Immer neuen Enthüllungen über die Finanzierung seines umstrittenen Wahlkampf-Flyers im Bundestagswahlkampf 2002 folgte der Ausschluss aus Fraktion und Partei. Dramatischer und zugleich tragischer Höhepunkt der Causa Möllemann war sein Freitod Anfang Juni. Ein Fallschirmsprung an dem Tag, an dem die Staatsanwaltschaft sein Privathaus in Münster durchsuchen wollte, endete tödlich. Jürgen W. Möllemann wählte eine Bühne für seinen Selbstmord, die an seine Art, Politik zu inszenieren, erinnerte. In den Wochen und Monaten zuvor gab es heftige, auch sehr persönliche Auseinandersetzungen innerhalb der FDP, die durch den Tod Möllemanns ein Schlaglicht auf den persönlichen Umgang in der Politik warfen.

Der Parteivorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, blieb auch nach den dramatischen Ereignissen um den Tod Möllemanns der Vorsitzende, musste in den folgenden Monaten aber immer wieder mit unzufriedenen Stimmen aus den eigenen Reihen und teils heftiger Kritik an seiner Parteiführung kämpfen. Persönlich gab er sich gewandelt, wenn nicht geläutert: Ernsthaftigkeit statt Show und Spaß lautete die neue Profilbeschreibung des jungen Chefs der Liberalen, die er gerne auch in Talkshows kundtat.

Die CDU/CSU

Die Diskussionen um die Reforminhalte der »Agenda 2010« kennzeichneten im Jahr 2003 auch die Situation bei der großen Oppositionspartei, der Union: Erfolge bei den Landtagswahlen für die CDU und in Bayern für die CSU, und auch im »Politbarometer« lag die Union stabil mit großem Abstand vor der SPD. Ein Vorsprung, der aber eher Ergebnis der gewaltigen Unzufriedenheit der Menschen mit der Politik der Bundesregierung war, als dass er in der programmatischen und personellen Stärke von CDU und CSU begründet lag.

Die auf dem CDU-Parteitag Anfang Dezember in Leipzig fast einmütig beschlossenen radikalen Veränderungen im Bereich der Gesundheits- und Steuerpolitik stellten einen Einschnitt in der Geschichte der Christdemokraten dar. Der Wechsel der von Norbert Blüm personifizierten Gesundheits- und Sozialpolitik hin zu einer einheitlichen Gesundheitsprämie (der Begriff Kopfpauschale erinnerte doch zu sehr an Kopfgeld) war eine klare, neue Positionierung der großen Volkspartei, ein Abschied auch von der CDU alter Prägung. Auch die Vorschläge für ein vereinfachtes Steuersystem, ausgearbeitet von Fraktionsvize Merz, stellten eine künftige Alternative im politischen Wettbewerb dar, die Gesundheitspolitik aber war das zentrale Feld, auf dem die gravierendsten Unterschiede zwischen den beiden großen Parteien offensichtlich wurden. Die CDU beschloss die weitreichenden programmatischen Veränderungen, wissend, dass sie so vermutlich nicht Realität werden. Finanzierungsvorbehalte gab es nicht nur naturgemäß beim politischen Gegner, sondern auch bei der bayerischen Schwesterpartei. Die politische Botschaft aber war klar: Seht her, die CDU ist regierungsfähig und hat moderne Konzepte für die Bewältigung der Probleme dieses Landes.

Und noch eine Debatte musste die CDU am Ende des Jahres führen. Die antisemitischen Äußerungen des hessischen Abgeordneten Martin Hohmann und der folgende erstmalige Ausschluss eines Fraktionsmitglieds aus der CDU/CSU-Fraktion zeigten, wie sensibel die Öffentlichkeit auch noch 60 Jahre nach Kriegsende auf eine Relativierung des Holocausts reagiert. Die angekündigte breite Patriotismusdebatte wurde vertagt. Der Leipziger Parteitag sollte dafür nicht die Bühne sein.

Die Parteivorsitzende Angela Merkel ging am Ende gestärkt aus diesen Diskussionen hervor, untermauerte ihren Führungsanspruch noch einmal deutlich. Bei allen inhaltlichen Fragen innerhalb der Union bestimmte automatisch immer auch die Personalfrage, sprich die Kanzlerkandidatur, das Jahr 2003 mit. Der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber positionierte seine Partei in den Fragen der sozialen Sicherungssysteme anders als die große Schwesterpartei und bekam in Leipzig die Quittung dafür. Von den CDU-Delegierten eher kühl begrüßt, fiel hier erstmals das Wort vom »ehemaligen Kanzlerkandidaten«. Wie die zu Jahresende offensichtliche Kluft zwischen den unterschiedlichen Konzepten von CDU und CSU zusammengeführt werden kann, blieb eine offene Frage. Das Gleiche galt letztlich für die Frage, wer Gerhard Schröder bei der Bundestagswahl 2006 herausfordern wird. Im Dezember 2003 schienen die Chancen von Angela Merkel gestiegen zu sein.

Bilanz

Die Reformdiskussion, ausgelöst durch die »Agenda 2010« auf der einen und die radikalen programmatischen Beschlüsse in der Gesundheits- und Steuerpolitik auf der anderen Seite, haben zu einem Wettstreit der politischen Konzepte geführt. Die Diskussionen werden weit ins nächste Jahr hineinreichen und darüber hinaus. Der Bürger verfolgt die gesamte Diskussion um Reformen und den Umbau des Sozialstaats mit zunehmender Sorge und Verunsicherung, und seine Skepsis gegenüber der Leistungs- und Handlungsfähigkeit von Politik wächst. Das Land ist dabei, sich zu verändern. Was am Ende des Jahres 2003 zu erkennen ist, sind erst die Konturen.

 
 
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