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2003  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
Thomas Bellut
Hans Janke
Hans Helmut Hillrichs
Peter Arens
Hiltrud Fischer-Taubert
Claus Beling
Marita Hübinger/Elke Heidenreich
Claus Kleber
Bettina Schausten
Norbert Lehmann
Matthias Fornoff
Eckart Gaddum

Hans Helmut Hillrichs

Menschenforschung der feineren Art
Notizen zum Kulturprogramm, Friedrich Schiller im Kopf

 
Hans Helmut Hillrichs
Hans Helmut Hillrichs


Szene aus »Mit Gottes Segen in die Hölle – der Dreißigjährige Krieg«
Szene aus »Mit Gottes Segen in die Hölle – der Dreißigjährige Krieg«


Kardinal Joseph Ratzinger
Kardinal Joseph Ratzinger
              
 

»In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen«, schreibt Friedrich Schiller zu Beginn der Kriminalnovelle Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Bei allen Aufsehen erregenden Verbrechen sei eine »verhältnismäßig große Kraft in Bewegung«, an der sich trefflich studieren lasse, was »in der schmalen Umzäunung der Gesetze« sehr viel schlechter zu beobachten sei, aber in den Tiefen der Seele den Bürger mit dem »Ungeheuer« verbinde.

Der »feinere Menschenforscher« kann nach Schiller auf diese Weise nicht nur das Leben unmittelbar »an den Quellen« aufspüren, sondern auch das öffentliche Interesse für den Bereich »gewaltsamer Leidenschaft« nutzen, um »das Nachdenken des Lesers auf würdige Zwecke zu richten«. Plädiert ausgerechnet der Klassiker und Idealist Friedrich Schiller für das Abseitige? Wohl kaum. Eher gibt er einen überzeugenden Hinweis darauf, dass mit dem Abstand zum Leben auch der Abstand zum Publikum wächst.

Kultur im Fernsehen, auf würdige Zwecke angesetzt, auf Öffentlichkeit angewiesen, mag aus Schillers Bemerkungen Anhaltspunkte zur Selbstprüfung, eine Art Revisionsraster gewinnen. Hat sie denn wirklich Unterrichtung für »Herz und Geist« auf ihre Fahnen und Stoffe geschrieben? Hat sie nicht den großen Kulturschöpfungen a priori einen höheren Programmwert beigemessen als den Kalamitäten und Fehlleistungen? Und ist sie damit nicht jener geschichtsmächtigen Spielart der Verdrängung erlegen, die die Ursachen für Krisen und Katastrophen an Sachen oder so genannte Sachzwänge delegiert, ihre Bewältigung dagegen als Beweis menschlicher Problemlösungskunst feiert?

Ein Schiller-Jahr steht, wieder einmal, bevor: 2005 wird man den 200. Todestag des Klassikers feiern. Ob Schiller wiederzubeleben ist, kann dabei nicht die Frage sein. Das Problem ist eher, ob wir seine Lebendigkeit erkennen und uns ihr gewachsen zeigen. Vielleicht wird es ja gelingen, das Lied von der Glocke – wie es kürzlich Günter Amendt in der tageszeitung formulierte – einmal anders, nämlich als eine Sozial- und Sittengeschichte des bürgerlichen Zeitalters zu lesen. Und sich daran zu erinnern, dass Schiller nicht nur Über das Erhabene oder über den Unterschied zwischen »naiver und sentimentalischer Dichtung« schrieb, sondern auch begeistert das Vorwort zum Pitaval, einer Sammlung der merkwürdigsten Rechts- und Kriminalfälle, verfasste.

Schiller – so lebendig, wie ein Toter nur sein kann? An der vital-vielseitigen Krimikultur des ZDF-Programms jedenfalls hätte der Begründer der deutschen Kriminalerzählung seine wahre Freude gehabt. Und wie steht es mit dem Bereich der Kultur selbst? Versuchen wir uns vorzustellen, wo der Blick des »feineren Menschenforschers« Schiller, des Sozial- und Sittenhistorikers, haften geblieben wäre im Programmjahr 2003.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre das Augenmerk des Dichters schon zum Jahresanfang auf die Trilogie »Die geheime Inquisition« gefallen, die auf dem Sendeplatz der populären Kultur am Sonntagabend um 19.30 Uhr ausgestrahlt wurde. 1998 hatte der Vatikan erstmals die geheimen Archive der Inquisition geöffnet. Zum ersten Mal und weltexklusiv durfte daraufhin ein Kamerateam im Auftrag des ZDF in den verborgenen Räumen des Heiligen Offiziums drehen. Hier lagern Prozessakten, Briefe und Notizen aus 500 Jahren Weltgeschichte über Päpste und Ketzer, Spitzel und Denunzianten, Inquisitoren und verfolgte Denker. 1542 war die römische Inquisition gegründet worden; mehr als 50 Todesurteile traten bis zum Ende des Jahrhunderts in Kraft, darunter das gegen den Philosophen Giordano Bruno, der im Jahre 1600 verbrannt wurde.

In drei Teilen, die einen fesselnden Bogen vom 16. bis zum 21. Jahrhundert schlagen, hat das mit kunstvollen Inszenierungen bestückte Doku-Drama »Die geheime Inquisition« von Jan Peter und Yury Winterberg die Geschichte dieser mächtigsten Institution der katholischen Kirche nachgezeichnet. Den Dichter, dessen Don Carlos den gefürchteten Großinquisitor nur spärlich in Szene setzt, ihn aber die gesamte Atmosphäre des Stückes bestimmen lässt, hätte außer der Sache selbst an diesem Dreiteiler vor allem die Perspektive interessiert: Erstmals wurden die Handlungen der Inquisition nicht nur aus der Sicht der Opfer, sondern vor allem aus der Perspektive der Täter erzählt. Was für Menschen waren die Inquisitoren, Richter, Verfolger und Zensoren? Was trieb sie an, welchen Prinzipien fühlten sie sich verpflichtet, welche Ziele verfolgten sie?

Schon in der Geburtsurkunde des populären Kulturtermins am Sonntagabend um 19.30 Uhr war Anfang der 90er Jahre festgeschrieben worden, dass dieser Sendeplatz kein Reservat für Idyllen, Postkartenansichten und unterhaltsame Geschichtsklitterung abgeben sollte. Die vergangene und gegenwärtige Welt anschaulich zu machen, ohne Weltanschauung zu betreiben, war und ist das Ziel des Termins. Immer wieder schob sich deshalb zwischen die großen kulturgeschichtlichen Panoramen und Sternstunden, die sich ohne ein Stück Verklärung kaum zeichnen lassen, die unnachsichtige Beobachtung dessen, was eher unter den Nachtseiten der Geschichte, unter dem Rubrum individueller und kollektiver Fehlleistungen, also in der Schiller’schen Kategorie der »Verirrungen«, abzuhandeln ist.

Noch ein zweiter historischer Dreiteiler auf dem Sonntagstermin der Kultur wurde diesem Anspruch auf exemplarische Weise gerecht. 200 Jahre nach Schillers Wallenstein-Trilogie und 25 Jahre nach einem berühmten ZDF-Fernsehfilm auf der Grundlage der Wallenstein-Biografie von Golo Mann widmete sich das ZDF erneut einer der düstersten Epochen der frühen Neuzeit: Der Dreißigjährige Krieg gilt als »Krieg der Kriege«, der Zeitraum zwischen 1618 und 1648 als einer der dunkelsten in der deutschen Geschichte. Die dreiteilige ZDF-Reihe »Mit Gottes Segen in die Hölle – Der Dreißigjährige Krieg« setzte im April und Mai 2003 diese düstere Epoche aus immer wieder wechselnden Perspektiven ins Bild, schilderte die Gegnerschaft Wallensteins und des Schwedenkönigs Gustav II. Adolf ebenso anschaulich wie die Erlebnisse des kleinen Söldners Peter Hagendorf, des »wahren« Grimmelshausen, der während des erbitterten Religionskriegs im Dienste unterschiedlicher Herren – des protestantischen Schwedenheeres ebenso wie der katholischen Truppen Habsburgs – 25 000 Kilometer kreuz und quer durch Deutschland zog. Er wurde so auch zum Augenzeugen des Untergangs von Magdeburg, Tiefpunkt der unaufhaltsamen Eskalation des Kriegsgeschehens.

Die Reihe »Mit Gottes Segen in die Hölle« nahm die Zuschauer im Rahmen der »ZDF Expedition« mit auf eine bewegende Zeitreise durch ein zerrissenes Deutschland, porträtierte die Akteure, analysierte die Hintergründe dieses politischen Wahnsinns im Namen Gottes und stellte Fragen, die auch angesichts heutiger Kriegshandlungen von Bedeutung sind.

Friedrich Schiller, den Ausprägungen menschlichen »Wahns« lebenslang auf der Spur und überzeugt davon, dass nur graduelle Unterschiede den (friedlichen) »Bürger« vom »Missetäter« trennen, wäre gewiss auch für einen weiteren Schwerpunkt im ZDF-Programm des Jahres 2003 hellhörig gewesen.

Über ein Jahr lang hatte der Autor Manfred Karremann in der geheimen Welt der Kinderschänder recherchiert. In zwei Dokumentationen für den Sendeplatz »37°« (»Das Mädchen und die Kinderschänder« und »Am helllichten Tag«) fasste er im Oktober/November 2003 seine Erfahrungen über Kindesmissbrauch in Deutschland zusammen. Im Anschluss daran wurde das ebenso brisante wie deprimierende Thema bei »Johannes B. Kerner« mit Bundesfamilienministerin Renate Schmidt und anderen Sachkundigen diskutiert und vertieft: Wie denken und handeln Menschen, deren sexuelles Interesse Kindern gilt? Wie gehen sie vor, um ihre Ziele zu erreichen? »Es gibt kaum einen Bereich, bei dem es so viele falsche Vorstellungen von Delikt, Opfer und Täter gibt«, sagte ein Polizeipsychologe im ZDF. Die Zahl der Pädophilen, jener Menschen, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, wächst seit einigen Jahren stetig an. Sie organisieren sich gerade über das Internet immer umfangreicher, inzwischen fordern sogar manche von ihnen ganz offen das Recht, ihre Neigung zum Sex mit Kindern ausleben zu dürfen.

Was geht in diesen Menschen vor und wie kann die Gesellschaft damit umgehen? Einmal mehr bot die Sendereihe »37°«, der »existentiellen Kultur« und der sozialen Klimaforschung verpflichtet, beunruhigende Einblicke in die deutsche Wirklichkeit. Manfred Karremanns beharrliche Nachforschungen haben erwiesen, dass der Schutz der Kinder vor Übergriffen, wie sie sich jeden Tag in Deutschland tausend Mal abspielen, nicht ausreicht – weil die Übergriffe oft ganz anders verlaufen, als Eltern sich das vorstellen.

Drei Kulturakzente des Jahres 2003 – drei unterschiedliche Blicke auf das, was gern verdrängt, versteckt, beschönigt wird. Patentrezepte für Resonanz, Königswege zum Publikum werden sich der Fernsehkultur auch in Zukunft kaum eröffnen. Aber es gibt die spezifische Chance des Dokumentarischen, nicht nur artig nach Gründen zu forschen, sondern authentisch in Abgründe zu leuchten, auf Affekte statt auf Effekte zu setzen und die Zuschauer souverän in die Tiefe der Themen zu führen.

Kultur, die sich auf diese Weise wieder zu ihren Quellen verirrt, könnte dem Berichterstatter, dem Spaßmacher und dem Geschichtenerzähler Fernsehen, der sich in den Bereichen Information, Unterhaltung und Fernsehspiel/-film etabliert hat, eine eigenständige Funktion beigesellen: Menschenforschung der feineren Art, frei nach Schiller sozusagen, frei für nüchterne Fragen und Blicke und für durchaus unterschiedliche dokumentarische Formen und Stoffe – nicht nur, aber auch aus den Annalen der Verirrungen.

 
 
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