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2003  
ZDF Jahrbuch
Aus der Programmarbeit
Thomas Bellut
Hans Janke
Hans Helmut Hillrichs
Peter Arens
Hiltrud Fischer-Taubert
Claus Beling
Marita Hübinger/Elke Heidenreich
Claus Kleber
Bettina Schausten
Norbert Lehmann
Matthias Fornoff
Eckart Gaddum

Eckart Gaddum

Die erste mediale Versuchung des Tages
Das »ZDF-Morgenmagazin«

 
Eckart Gaddum
Eckart Gaddum
              
 

Johannes Rau begrüßt uns freundlich auf der Schlosstreppe. Dann teilt er ohne Umschweife mit: »Morgens sehe ich niemals fern. Unvorstellbar, schon der Kinder wegen!« Im nächsten Moment laufen die Kameras. Der Bundespräsident gibt dem »ZDF-Morgenmagazin« ein gut gelauntes Interview, das erste von fünf in jener Woche im Juni. Das »Morgenmagazin« ist die erste mediale Versuchung des Tages. Und wenn selbst ein moralisch grundsatzfestes Staatsoberhaupt schwach wird, wie soll der ganz normale Sünder auf Dauer widerstehen?

Im Jahr 2003 sahen durchschnittlich 30 000 Zuschauer mehr das ZDF/ARD-»Morgenmagazin«. Über drei Millionen schalten zwischen 5.30 Uhr und neun Uhr ein, in der Regel für eine halbe Stunde. Zwischen Zähneputzen und Marmeladenbrot ein paar frische Nachrichtenhäppchen – daran gewöhnt man sich schnell. ZDF und ARD erobern die Lebensgefühle am Morgen. Und sie liegen dabei verdient und klar in Marktführung.

Im Rückblick auf 2003 könnte man sehr Gutes über das »Morgenmagazin« berichten. Es hat an politischer Profilschärfe gewonnen. Interviewgäste wie Johannes Rau, US-Außenminister Colin Powell oder auch Europas erster Außenpolitiker Javier Solana sprechen für sich. Und als am 20. März um 3.33 Uhr der Krieg gegen den Irak beginnt, fällt es dem »ZDF-Morgenmagazin« zu, diese erste und schwierigste Phase der Berichterstattung zu stemmen. Über fünf Stunden improvisiertes Informationsfernsehen – das forderte hohe journalistische Kunst und wurde professionell gemeistert.

Interessanter freilich als solche Erfolgsmeldungen ist es, das Jahr 2003 mit einigen Bemerkungen zum Verhältnis von Politik und Medien zu bilanzieren. Hier nämlich kann das »Morgenmagazin«, dessen konzeptionelles Rückrad täglich bis zu sieben politische Interviews sind, als Seismograph von Entwicklungen dienen.

2003 war das Jahr der Reformdebatte, aber auch ein Kampf um die beste Selbstinszenierung der politischen Akteure. Sendungen wie das »Morgenmagazin« geraten in solchen Phasen zu einer Art Arena, in der um öffentliche Vorherrschaft gekämpft wird. Gleich morgens, bevor der politische Gegner seinen Kaffee ansetzt, wollen Politiker Botschaften setzen, Begriffe besetzen, Tagesstimmungen zu ihren Gunsten beeinflussen. Umgekehrt versucht jede Informationssendung, sich zum Forum dieser Auseinandersetzung zu machen. Dass das »Morgenmagazin« deshalb oft zum Interview lud, war normal, dass sich die Gäste immer öfter selbst einluden, sehr auffällig. Unanständig ist letzteres sicher nicht – die Redaktion kann ja ablehnen. Dennoch zeigt dieses Phänomen, wie sehr das »Morgenmagazin« für das strategische Kalkül politischer Akteure an Bedeutung gewinnt.

Für die Redaktion wiederum stieg 2003 der Druck, in der Berichterstattung um die Reformdebatte vorne mitzuspielen. Und auch wenn die Fahne journalistischer Unabhängigkeit selbstverständlich hoch und sichtbar aufgezogen gehört – im politischen Treibhaus Berlin pflegen Politiker wie Journalisten (egal welchen Mediums) aus beiderseitigem Interesse ihr Beziehungsklima. Das verbindet! Man muss kein Purist sein, um einen Konflikt darin zu erkennen, Politiker kritisch zu begleiten, gleichzeitig aber auf sie angewiesen zu sein. Von journalistischer Seite Verhaltensregeln dazu festzulegen, ist schwierig. Der einzelne hat sich selbst zu prüfen. Vor allem aber muss – wie im »ZDF-Morgenmagazin« – der journalistische Geist in einer Redaktion stimmen.

Eine weitere Facette zum politisch-medialen Miteinander: Die Ritualisierung der aktuellen Interviews schreitet fort. Auch hier war das »Morgenmagazin« gefordert, weil die gewöhnlich knappen Gespräche diesen Trend zusätzlich verstärken. Zwei Beispiele: Ein Gast ist zur Frage nach dem künftigen Bundespräsidenten eingeladen. »Fragt ihr mich nach einer Frau? Wenn nicht, sage ich trotzdem was dazu?« Natürlich sollte danach gefragt werden. Klar wird hier aber: Die Neigung politischer Akteure, auf Interviewfragen eigentlich nur das zu sagen, was sie eh unters Volk bringen möchten – ob es nun passt oder nicht –, nimmt erschreckend zu. Im schlimmsten Fall gerät der Journalist in eine Art Statistenrolle, in der seine Frage, wie kritisch und scharfsinnig sie gestellt sein mag, zum beinahe lächerlichen Stichwort verkümmert.

Zweites Beispiel: Wer Johannes Rau bei jener Sommerreise nach einer zweiten Amtszeit fragte, bekam keine klare Antwort. Rau wollte abwarten. Alle Journalisten wussten das. Dennoch fehlte die Frage in keinem Interview. Sie nicht zu stellen, galt als journalistische Verfehlung. Das Interview bekommt rituelle, ja spielerisch inszenierte Züge, die beide Seiten mit großem Ernst durchexerzieren. Fragt man einen hoch professionellen Moderator wie Christian Sievers, schätzt er die Chance, diese Rituale in einem Interview aufzubrechen, auf vielleicht 30 Prozent. Er wäre nicht Sievers, wenn er dieser Chance nicht täglich hinterherjagte.

Damit aber nicht genug. Das »Morgenmagazin« hat 2003 zwei Versuche unternommen, aus der geschlossenen politisch-medialen Gesellschaft als auch dem Gefängnis der Interviewrituale auszubrechen. Erstens: das »TOP-Thema«, morgens um acht Uhr. Hier werden, statt der gängigen vier, bis zu 15 Minuten für ein Thema veranschlagt. Keine tägliche aktuelle Sendung gönnt sich diesen Luxus. Mal werden zu einem Gespräch zwei Akteure geladen, mal spielt man freche Straßenumfragen ein. Vor allem aber sollen die Moderatoren Gelegenheit haben, es dem Akteur schwerer zu machen. Trotz manch gut gemeinter Warnung, das bewährte Stakkatoformat des »Morgenmagazins« nicht anzutasten, geht der Zuschauer auch den Weg über die längere Strecke mit. Die rituellen Anteile in Interviews nehmen spürbar ab.

Zweitens: das »Morgenmagazin-Café«. Die geschlossene Berliner Politgesellschaft, die in Fernsehstudios sorgsam geschützte Bühnen findet, wird jetzt durch die Anwesenheit von Zuschauern angenehm irritiert. Zwar sind Sendungen vor Publikum prinzipiell kein Novum. Neu aber ist es, den normalen Bürger in das tägliche nachrichtliche Geschäft hineinzunehmen, ihm die unmittelbare Beobachtung des aktuellen journalistischen Geschäfts zu ermöglichen. Das Projekt startete im September. Täglich in der letzten halben Stunde, live aus dem Innenhof des Zollernhofs, verfolgen 50 Gäste die Sendung. Allein die Anwesenheit des interessierten Bürgers stört den rituellen Frieden: Da regt sich plötzlich ein hessischer Stadtrat darüber auf, dass seine Gemeinde seit zehn Jahren von einer Turnhalle träumen muss. Dem befragten Finanzexperten der SPD fällt es nachfolgend spürbar schwerer, über die Misere der kommunalen Haushalte zu fabulieren. So ist das Feilen am »Morgenmagazin« mehr als bloße Spielerei. Es ist der Versuch, sich allen Tendenzen von Ritualisierung und Kungelei entgegenzustemmen.

Die Reise des Bundespräsidenten übrigens ging um die Seelenlage junger Deutscher. Rau sprach mit Fußballfans, Arbeitslosen und anderen. Das »Morgenmagazin« berichtete. Am Ende rief die Bild-Zeitung an, berief sich auf einen aufgeregten Zuschauer: Da habe auf dem Interviewtisch eine Karaffe mit verdächtiger Flüssigkeit gestanden. Ob der Präsident denn schon morgens Rotwein trinken müsse. Der Rotwein war Coca-Cola, der Anrufer beruhigt. Es ist doch immer hilfreich, wenn der Zuschauer die da im Fernsehen spüren lässt, dass sie unter Beobachtung stehen.

 
 
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