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2002  
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Dieter Landmann

Jugendmedienschutz
Der Amoklauf in Erfurt als Anlass zum Nachdenken und Handeln

 
Dieter Landmann
Dieter Landmann


Trauerfeier in Erfurt
Trauerfeier in Erfurt


Blumenmeer am Erfurter Johannes-Gutenberg-Gymnasium
Blumenmeer am Erfurter Johannes-Gutenberg-Gymnasium
              
 

Am 26. April 2002 erschoss der 19-jährige Robert S. im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen, bevor er sich selbst tötete. Als ihn die Polizei fand, trug er eine Pump-Gun über der Schulter. Die Pistole hielt er in der Hand. Die Ermittlungen ergaben, dass Robert S. auf seinem Computer 35 Spiele gespeichert hatte, die vielfach nur ein Ziel haben: töten und nicht getötet zu werden – so die Spiele »Counterstrike« und »Return to Castle Wolfenstein«. Darüber hinaus stießen die Ermittler bei ihm auf Videos wie »Cut«, das die Zerstückelung von Menschen zeigt, sowie auf einen Krankenhausfilm, in dem Menschen brutal abgeschlachtet werden.

Die Bluttat von Erfurt hat in Deutschland und in vielen Teilen der Welt Bestürzung und Betroffenheit ausgelöst. Der Massenmord eines 19-Jährigen erscheint unfassbar und unbegreiflich. Die Vernichtung menschlichen Lebens durch einen Einzelnen in einem derartigen Ausmaß kannte man bisher hier nicht. Im Vergleich zu früheren Verbrechen ähnlicher Art (in Bad Reichenhall richtete ein 16-Jähriger mit den Waffen seines Vaters ein Blutbad an; in Meißen tötete ein Jugendlicher aus Hass seine Lehrerin) hat das Massaker von Erfurt noch eine andere Dimension und unterscheidet sich nicht mehr von amerikanischen Gewaltakten gleichen Musters. All diesen Exzessen ist gemeinsam, dass sie jeweils von jungen Menschen begangen wurden.

Die Opfer von Erfurt – Schüler, Lehrer, ein Polizist – waren noch nicht bestattet, da begann auch jetzt sofort wieder die Suche nach den Ursachen und der Verantwortung – sicherlich eine verständliche Reaktion in dem Bestreben, rasch zu erfahren, was veranlasst werden muss, damit sich so etwas nicht wiederholt. In dieser Diskussion geht es einmal mehr um die Rolle der Medien und ihre Mitverantwortung für die Gewaltbereitschaft der Gesellschaft, insbesondere bei Jugendlichen. Der Darstellung von Gewalt in Fernsehsendungen, Videofilmen, Computerspielen sowie im Internet wird dabei, wie auch schon früher bei ähnlichen Anlässen, eine erhebliche Mitschuld an dem Ansteigen von Hass, Gewalt und Aggressivität in vielen Lebensbereichen angelastet. Was ist dran an all diesen Vorwürfen?

Sicherlich können die Gewaltdarstellungen in den Medien nicht pauschal für die unzweifelhaft angestiegene Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft verantwortlich gemacht werden. Eine Monokausalität zwischen medialer und realer Gewalt gibt es nicht. Die Theorie »heute eine Schlägerei im Fernsehen, morgen selbst zuschlagen« hat keine Grundlage. Die einfache »Wenn – dann«-Wechselbeziehung ist nicht belegt. Andererseits ist nach den Erkenntnissen der Medienforschung davon auszugehen, dass ein permanenter Konsum von Gewalt in den Medien im Zusammenwirken mit anderen gesellschaftlich und individuell bedingten Faktoren Gewalt, Aggressivität und Verrohung in der menschlichen Gesellschaft fördern kann. Dies gilt vor allem für Vielseher in sozial schwachen Schichten. Allein schon die Gefahr einer Mitursächlichkeit macht es aber zwingend erforderlich, dass sich alle Medienverantwortlichen ihrer besonderen Verantwortung für Kinder und Jugendliche stellen.

Ob dies generell der Fall ist, erscheint zweifelhaft: So hat die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften und Medieninhalte nach dem Massaker von Erfurt einen Indizierungsantrag betreffend das Computerspiel »Counterstrike«, zu dessen Anhängern auch der Täter von Erfurt gehört haben soll, gegen alle Erwartungen abgelehnt. Bei dem Computerspiel hat derjenige gewonnen, der zuerst alle Feinde und Gegner getötet hat. Angesichts der massiven Gewaltelemente, die das Spiel enthält, dürfte nicht auszuschließen sein, dass jedenfalls eine ständige intensive Befassung mit »Counterstrike« auf längere Sicht nicht ohne negative Folgen auf die Einstellung der Spieler zur Anwendung roher Gewalt bleibt. Dies gilt jedenfalls für Spieler aus bestimmten Problemgruppen, etwa aus einem ohnehin potentiell gewaltbereiten Milieu. Das ZDF hat dem Jugendmedienschutz von jeher einen hohen Rang eingeräumt und sich für diesen stets in besonderem Maße engagiert.

Für die aktuelle Berichterstattung des ZDF gilt, dass Gewalt sowie die Opfer von Gewalt nicht um ihrer selbst willen gezeigt werden dürfen, sondern nur, um die Realität in all ihren Dimensionen begreifbar zu machen. Ziel muss es jeweils sein, den Zuschauern deutlich vor Augen zu führen, dass Gewalt als Mittel der Konfliktlösung abzulehnen und zu ächten ist. Demgemäß ist die Berichterstattung über Gräueltaten und Grausamkeiten im Weltgeschehen, insbesondere zu Sendezeiten, bei denen auch viele Kinder und Jugendliche anwesend sind, gründlich abzuwägen.

Für Filme, Fernsehspiele, Serien etc. gilt im ZDF, dass Gewalt nicht als Selbstzweck und Schlüssel zu einer erfolgreichen Konfliktlösung präsentiert werden darf. Darüber hinaus darf nach diesen internen Standards Gewalt dramaturgisch nicht spekulativ eingesetzt und nicht ohne Kontext dramaturgisches Element werden. Auch darf sie nicht als »cool« und »in« oder als etwas Normales beziehungsweise als gesellschaftlich akzeptiert angeboten und auch nicht belohnt oder verharmlost werden.

Wenn auch außer Frage stehen dürfte, dass beim ZDF – ebenso bei der ARD und einigen anderen Häusern – grundsätzlich ein effektiver Jugendmedienschutz praktiziert und mit der Darstellung von Gewalt angemessen umgegangen wird, so war das Ereignis von Erfurt dennoch für uns Anlass zur Besinnung und zur Überprüfung; eine Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob wir alles richtig gemacht haben und was nach dem Massaker von Erfurt zusätzlich zu tun ist, damit sich ein solches Ereignis nach Möglichkeit nicht wiederholt.

Der Bundespräsident hat in seiner Rede anlässlich der Trauerfeier zum Gedenken an die Opfer des Massakers am 3. Mai 2002 mahnend gefragt, ob wir uns nicht zu sehr daran gewöhnt haben, dass Gewalt, Hass und Hemmungslosigkeit nicht nur im Film und in manchen Computerspielen selbstverständlich sind, sondern dass sie auch manche Talkshow und manche unserer Gespräche bestimmen. Um sodann fortzufahren: »Doch bevor wir allein den Medien die Schuld geben: tragen wir selber dazu bei, dass mit der Darstellung von Hass und Gewalt, dass mit menschlichem Leid hohe Einschaltquoten erzielt werden?« – womit die entscheidende Frage der Mitverantwortlichkeit jedes Einzelnen angesprochen ist.

Ebenfalls mit dem Ziel, Abhilfe zu schaffen, hatte der Bundeskanzler unmittelbar nach der Tat von Erfurt führende Vertreter deutscher Fernsehsender zu einem Treffen ins Kanzleramt eingeladen, bei dem es ebenfalls darum ging, alles daran zu setzen, dass es nicht mehr zu einer solchen Tat kommt. Der Kanzler wörtlich: »Wir müssen hart daran arbeiten, um Wiederholungen von Geschehnissen wie in Erfurt ausschließen zu können.« Für den Intendanten des ZDF lag es daher nahe, bei diesem Gespräch die erwähnten ZDF-internen Standards über den Umgang mit Gewalt im Fernsehen als Grundlage einer allgemeinen Selbstverpflichtung vorzuschlagen. Es wurde bei diesem Treffen ein Runder Tisch verabredet, der, soweit bekannt, in Kürze erneut zusammentreten soll.

Das ZDF hat das Erfurter Geschehen seinerzeit in verschiedenen Sendungen aufgearbeitet, so beispielsweise in den Sendungen »logo!« am 29. und 30. April 2002 sowie 3sat in der Sendung »nano« am 6. Mai 2002 mit dem Medienwissenschaftler Professor Jürgen Grimm. Darüber hinaus hat sich auch der Fernsehrat des ZDF in seinen Ausschüssen Programmdirektion und Partnerprogramme aufgrund des aktuellen Ereignisses mit dem Thema »Gewalt in den Medien« befasst und festgestellt, dass sich das ZDF mit der Darstellung von Gewalt im fiktionalen Programm selbstkritisch und verantwortungsvoll befasst.

Die Tat von Erfurt hat bewirkt, dass sowohl auf Bundesebene als auch auf der Ebene der Länder umgehend eine weitreichende Neuregelung der jugendschutzrechtlichen Vorschriften in der Bundesrepublik möglich wurde, nachdem zuvor die bis dahin nahezu unüberbrückbaren Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bund und Ländern überwunden werden konnten. Während das Jugendschutzgesetz des Bundes den Jugendschutz bei Filmen, Videos und Computerspielen neu regelt und damit an die Stelle des Gesetzes zum Schutze der Jugend in der Öffentlichkeit sowie des Gesetzes über jugendgefährdende Schriften und Medieninhalte tritt, regelt der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag nunmehr einheitlich den Jugendmedienschutz im Rundfunk, in den Mediendiensten sowie in den Telemedien. Beide Regelungswerke treten am 1. April 2003 in Kraft.

Ob durch die gesetzliche Neuregelung der Jugendmedienschutz tatsächlich gestärkt und das Maß an Gewaltdarstellungen im TV- und Videobereich sowie im Internet eingedämmt werden kann, wird die Zukunft zeigen. Skepsis ist jedoch nach wie vor angebracht, wobei wirkungsvolle Maßnahmen gegen Hass und Gewalt im Internet ungleich schwieriger durchzusetzen sind als im TV- und Videobereich. So hat die Zahl rechtsextremistischer Seiten im Internet, die überwiegend nicht in Deutschland, sondern im Ausland ins Netz gestellt werden, nach Einschätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz weiter zugenommen, was den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, auf dem internationalen Kongress der Landesanstalt für Medien NRW am 17. September 2002 zu der Äußerung veranlasste, noch vor 15 Jahren hätte er sich nicht vorstellen können, dass man wieder öffentlich zu Hass aufrufen könne und dürfe. Das Problem ist, dass die Hersteller strafrechtlich relevanter Inhalte nach der Sperrung durch große Netzanbieter auf solche Zugangsanbieter ausweichen, die eine Selbstkontrolle ablehnen. Hier bleibt letztlich nur noch die Möglichkeit, strafbare Online-Inhalte solcher Zugangsanbieter zu sperren. Der Schutz der Menschenwürde, das höchste Rechtsgut der Verfassung, das auch den Jugendschutz einschließt, macht in einer derartigen Situation eine Einschränkung der Meinungsfreiheit erforderlich.

Einige Monate nach der Tat von Erfurt scheinen etliche TV-Veranstalter, wie deren tägliche »Angebote« zeigen, auf dem besten Wege zu sein, die Warnung des Bundespräsidenten vor überzogener Darstellung von Hass, Gewalt und menschlichem Leid zu verdrängen und so weiter zu machen, als hätte es »Erfurt« nicht gegeben. Auf der Seite der Sender sind jedoch alle Programmverantwortlichen aufgerufen, dem Kampf gegen Gewalt, Aggression und Hass in der Gesellschaft bei der Programmplanung verstärkt Rechnung zu tragen und die Vermittlung von moralischen Vorbildern und Idealen gegenüber Kindern und Jugendlichen in geeigneter Weise zu unterstützen. Eine entscheidende Rolle wird dabei spielen, ob und wie man sich bei jungen Leuten Aufmerksamkeit und Gehör verschaffen kann, ob und wie sie überhaupt noch erreicht werden können, insbesondere, wenn sie bereits bei Computer-Killerspielen und Drogen angekommen und extremistischen Ideen verfallen sind.

Das ZDF, seine Organe, alle Kolleginnen und Kollegen, insbesondere die des Programms sowie die dazu ansonsten Berufenen werden jedenfalls nicht nachlassen, den berechtigten Belangen des Jugendschutzes Rechnung zu tragen. Die hohe Verantwortung, die das ZDF dem Jugendschutz entgegenbringt, wird sich daher auch fortan erweisen. Dies gilt umso mehr, als die mit dem Siebten Rundfunkänderungsstaatsvertrag vorgesehenen »Selbstverpflichtungserklärungen« der Sender Gelegenheit geben werden, das hohe Verantwortungsbewusstsein, das wir dem Jugendschutz entgegenbringen, auch öffentlich zu vermitteln und zu kommunizieren.

 
 
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